Prüfungswissen: Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Hinweis: Einführung zu der Entscheidungsbesprechung:  Wiederholte Terminverlegung im Eilrechtsschutzverfahren (BVerfG; Beschluss vom 03.09.2015 – 1 BvR 1983/15 ) Die Entscheidungsbesprechung wird heute mittag veröffentlicht.

Prüfungswissen: Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

I. Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG)
Die Verfassungsbeschwerde ist dann einschlägig, wenn sich der Bürger als dem Staat gegenüberstehend gegen eine staatliche Maßnahme wendet. Dies ist hier der Fall.

II. Beschwerdegegenstand (Art 93 1 Nr. 4a GG, §§ 90 I, 95 1 BVerfGG)
Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist ein Akt öffentlicher Gewalt (alle deutschen Staatsgewalten; damit auch gegen Gesetze). Hier wendet sich der Bf. gegen die für ihn nachteiligen sozialgerichtlichen Entscheidungen. Urteile sind ein tauglicher Beschwerdegegenstand.

III. Beschwerdebefugnis, Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG
Der Beschwerdeführer muss behaupten, in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, Artikel 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein.

1. Möglichkeit einer Rechtsverletzung
Eine Verletzung dieser Rechte dürfte demnach nicht von vornherein und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen sein, d.h. die angegriffene Maßnahme der öffentlichen Gewalt muss Rechtswirkungen äußern und geeignet sein, die Rechtspositionen des Beschwerdeführers zu seinem Nachteil zu verändern.
Hier könnte der Bf. in der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG verletzt sein. Zudem erscheint eine Verletzung von Art. 3 I GG aufgrund der unterschiedlichen Behandlung von Kindergeld im Steuerrecht und im Sozialleistungsrecht nicht von vornherein und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen.

2. Unmittelbare Betroffenheit
Über die Möglichkeit einer Rechtsverletzung hinaus ist jedoch erforderlich, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind.

a) Selbstbetroffenheit
Ist immer dann ohne nähere Darlegung anzunehmen, wenn die Norm, die gerichtliche Entscheidung oder der Einzelakt sich an ihn selbst richtet. Hierbei muss eine Berufung auf eigene Grundrechte erfolgen. Ansonsten ist eine ausdrückliche Prüfung der Selbstbetroffenheit notwendig.
Da der Bf. hier gegen eine gerichtliche Entscheidung vorgeht, ist Selbstbetroffenheit ohne weiteres anzunehmen.

b) Gegenwärtigkeit
Der Bf. muss aktuell noch betroffen sein, eine in der Zukunft liegende Betroffenheit reicht hingegen nicht aus. Auch dies ist angesichts der gegen ihn ergangenen Entscheidungen ohne weiteres gegeben.

c) Unmittelbare Betroffenheit
Diese besteht bei Gesetzen nur, wenn zur Herbeiführung der Betroffenheit ein Umsetzungsakt nicht mehr erforderlich ist; ansonsten muss der Umsetzungsakt abgewartet werden, wenn dies nicht zu nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen oder nicht nachholbare Dispositionen führt. Bei anderen Hoheitsakten besteht sie immer, also auch hier.

IV. Frist, § 93 BVerfGG
Die Verfassungsbeschwerde ist innerhalb von einem Monat nach der belastenden Maßnahme zu erheben. Von der Einhaltung dieser Frist kann ausgegangen werden.

V. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG
Der Rechtsweg muss erschöpft sein. Etwas anderes gilt nach § 90 II 2 BVerfGG nur, wenn die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.
Der Bf. hat den Rechtsweg vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft.

VI. Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
Auch über die Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus ist die Verfassungsbeschwerde gegenüber einer Inzidentprüfung durch die Fachgerichte subsidiär, so dass dies auch bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, bei der kein Rechtsweg vorgesehen ist, gilt. (BVerfGE 78, 350 [355], BVerfGE 84, 90 [116]; BVerfG NJW 2003, 418; BVerfG, NVwZ 2004, 977). Dies gilt allerdings nicht für die mögliche Einlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde (vgl. BVerfG, MJW 2004, 2891). Dies spielt hier jedoch keine Rolle.

Veröffentlicht in der Zeitschriftenauswertung (ZA) Januar 2016